Ist Privatheit eine Anomalie?

Wenn es nach Google und dem „Chief Internet Evangelist“ dort geht – ja.

Vinton C. Cerf, Vice President von Google und einer der maßgeblichen Entwickler des Internets hat jetzt diesen Satz in den Raum gestellt: „privacy may actually be an anomaly” sagte er bei einer Konferenz der Federal Trade Commission. Und Techcrunch veröffentlichte gleich einen Artikel mit dem Zusatz: „Historically, He’s right“. (Ich lasse jetzt hier die Verlinkung weg, denn für den Unsinn mag ich keinen Backlink spenden.)

Erst einmal ist mir vor Staunen nichts mehr eingefallen. Dann aber doch mehr: drei Aspekte: Rhetorik, Aufgabe von Medien und dann die Sache Privatheit an sich.

Rhetorik: Cerf schafft es, Privatheit als etwas unnormales aussehen zu lassen. Und der Zusatz von Techcrunch, dass Cerf damit historisch recht habe, gibt der Aussage noch Nachdruck und Gewicht. Begründet wird diese „Anomalie“ mit Hinweisen darauf, dass man in Europa im Mittelalter in großen Gemeinschaftsbetten geschlafen habe, im alten Rom seien Badeanstalten öffentlich gewesen und dann habe es auch keine Trennwände auf Toiletten gegeben, deshalb hätte jeder mithören können, was so erzählt wurde. Man ist ja aus dem Bible-Belt allerhand Unsinn gewöhnt, aber das ist schwer zu toppen: Demnächst werden uns die Prediger (die Billy Grahams, Creflo Dollar, etc., also die anderen Evangelisten.) erzählen, dass Google was mit God und Good zu tun hat. Und Techcrunch wird dann schreiben: Semantically they are right.

Also weil es früher (scheinbar) keine Privatheit gab, dann ist sie jetzt (Achtung Logik!) eine Anomalie und deshalb schlecht. Hier wird etwas gleich gesetzt, das nicht gleichsetzbar ist. Der Logik folgend wäre auch Penicillin eine Anomalie (gab’s früher auch nicht) oder das Internet oder vielleicht sogar die USA, denn die gab es zu Zeiten Roms auch noch nicht. Wollen wir deshalb darauf verzichten? Ich nicht. Diese ganzen schönen Sachen, die einmal als Anomalie gestartet und nun wertvoll sind?

Aufgabe der Medien: Techcrunch als disruptiver Blog ist ein ausgemachtes Sprachrohr der Internet-Evangelisten. Die Leute erfüllen hier nicht die Aufgabe eines Mediums, das die Gesellschaft ausgewogen informieren könnte. Die Leute dort begreifen sich als Medium im metaphysischen Sinn. Sie channeln Silicon Valley. Ganz klar wird hier die Haltung von Google unterstützt, ein Abwägen von Argumenten findet nicht statt. Im Gegenteil. Es wird Meinung und Stimmung gemacht.

Privatheit: Ich finde, dass Privatheit und der Schutz dieser Sphäre wichtig und richtig ist. Ich verneige mich vor meinen Eltern, Großeltern und Vorfahren, die dieses Gut mit erkämpft haben. Privatheit ist – richtig beobachtet Herr Cerf – etwas Neues, menschheitsgeschichtlich gesehen. Und etwas gutes. Und dass es gut sein muss mag man auch daran erkennen, dass ein anderer Envangelist des Internets, Mark Zuckerberg schon mal vorsorglich die Grundstücke um sein Haus herum aufgekauft hat. Es könnte ja jemand zu nahe kommen (Oktober 2013, ZDnet).

Wasser predigen und Wein trinken? Vinton: don’t be evil! Historically you are wrong, because everything new – good or bad – starts as an anomaly. Your devellopement, your internet startet as something totally new – is it an anomaly?

Kleist: Ein frei denkender Mensch....
„Ein freier, denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hin stößt“. Kleist.
(Vinton, you may leave from where coincidence has put you…)